Geschichten aus, über und von einer kleinen Synagoge und jüdischem Leben auf dem Land

Es war ein besonderer Tag. Der Freundeskreis der Burg Fürsteneck und die Musische Gesellschaft treffen sich in Niederwalgern bei Weimar. Da stimmt was nicht, Weimar? Da gibt’s kein Niederwalgern… ahh, bei Gießen, nicht Richtung Osten und ob Goethe schon mal in Niederwalgern war, ich wage es zu bezweifeln, aber bei Goethe weiß man nie. Also erstmal Richtung Gießen und dann nach Weimar –  Niederwalgern

Wir treffen uns am Bahnhof und sind verabredet mit Gabriele Schmitt, sie ist seit langem mit der Burg verbunden und hatte angeboten, uns die kleine Synagoge in Niederwalgern  zu zeigen. Und wie immer, wenn es um Judentum in Deutschland nach `33 geht, sind die Geschichten traurig bis unfassbar. Gabriele erzählt, dass von diesem Bahnhof aus, die Menschen von den Orten ringsherum in die KZs deportiert wurden und die so friedliche Landschaft und der eigentlich hübsche Bahnhof (leider sehr runter gekommen) das letzte waren, was sie von ihrer Heimat sehen sollten.

Zu Fuß gingen wir dann durch Wiesen und Felder in den Ort. Das Wetter war nett zu uns, es regnete nicht, also gerade recht für einen Spaziergang. Gabriele erzählte schon hier von dem Zusammenleben der Menschen vor dem Regime Adolf Hitlers, dass die Leute im Dorf gemeinsam arbeiteten, sich gegenseitig halfen, wenn mal Not am Mann war und die Schüler gemeinsam zur Schule gingen, voneinander abschrieben und sich gegenseitig bei den Hausaufgaben halfen.

An der Synagoge angekommen, fielen  gleich die Stolpersteine auf, die vor dem kleinen fast schnuckeligen Gebäude eingesetzt worden waren. Die Hausbesitzer der Häuser, vor die die Steine gehörten, wollten sie nicht vor ihren Häusern haben. Wie viel Scham und eventuell auch schlechtes Gewissen dazu führt, die Stolpersteine abzulehnen, lässt sich nur erahnen.

Die Synagoge an sich ist wirklich klein und zierlich. Ein Verein hat sie in den letzten Jahren zusammen mit dem Denkmalschutz wieder hergerichtet. Doch so klein wie sie ist, so voll ist sie auch, nicht vollgestellt, sondern voller Geschichten, voller Zeugnisse vom einstigen Leben und voller Gemeinsamkeit die Überdeckt wird von den Geschichten von Tot, Flucht und der Sprachlosigkeit über schreckliche Taten.

Diese Geschichten prasseln in diesen kleinen Raum aufeinander, Erzählungen von rechtzeitig Geflohenen und den Peinigern, die zurückgeblieben sind. Auch ihre Geschichten stehen anklagend im Raum und sind greifbar, zusehen an den Axtschlägen auf einen der Balken, die die Balustrade halten.

Liebevoll wurde in der Synagoge das, was zu retten war erhalten und durch Tafeln ergänzt, auf denen man zum einen die Renovierungsarbeiten sehen kann und zum anderen einige Lebensläufe von geflohenen und getöteten Familien. Es ist eine beeindruckende und ergreifende Arbeit die dort zu sehen ist, eine Arbeit, die Erbauer ehrt und sie nicht nur zu Opfern macht, sondern zu einem Teil von uns, unserer Geschichte, der dunkelsten Geschichte von der ich weiß. Gleichzeitig zwingt sie aber auch die Täter, sich mit ihrem Tun zu beschäftigen und vieles wird immer verschwiegen bleiben, doch die Täter und Mitläufer müssen damit leben, dass auch ihre nie erzählten Geschichten als Mahnung für uns alle in diesem Raum einen Platz haben.

Nach dem Besuch der Synagoge gibt’s erstmal was zu Essen und danach machten wir noch einen Abstecher auf den alten Jüdischen Friedhof, oberhalb der Stadt, mit einer wunderschönen Aussicht über die Landschaft Mittelhessens. Auf einigen Grabsteinen kann man noch heute sehen, dass die Texte der Grabsteine nicht nur auf Hebräisch, sondern auch in deutscher Sprache eingraviert waren, ein Zeichen der Verbundenheit und der Zugehörigkeit.

Auch hier gibt es wieder Geschichten von einem gemeinsamen Leben vor dem III. Reich und wie so oft, werden sie überdeckt von Friedhofsschändungen unverbesserlicher Rechter, Dieben, die noch einen Sandstein brauchten, bis hin zu Gothic-Spinnern.

Bei allem was ich bis dahin über das jüdische Leben in Deutschland wusste, ist mir nie klar gewesen, dass es  natürlich auch ein sehr aktives jüdisches Leben auf dem Land gab. Auch dafür steht dieser Raum. Wenn man bedenkt, dass die Menschen im ländlichen Raum notgedrungen mehr miteinander zu tun hatten, sich gegenseitig halfen und stärker miteinander verbunden waren, als es oft in den Städten der Fall war, so macht es den Holocaust noch schrecklicher und grausamer, weil dann jegliche Anonymität aufgehoben wird.

Vom Friedhof ging es zu Gabis bezauberndem Gartenhaus in Mitten von Apfelbäumen und Beerensträuchern. Bei Kaffee und Kuchen saßen wir noch etwas zusammen, sprachen über das Leben im Allgeneinen und im Einzelnen und ließen es uns gut gehen.

Jetzt, wenige Tage später bin ich noch voll mit den Geschichten und freue mich sehr, dass ich mich aufgemacht habe um eine kleine Synagoge zu besuchen, die mit Geschichte prall gefüllt ist, mit unzähligen Geschichten und Zeugnissen, dass sie eigentlich zerplatzen müsste.

Dieser Tag war wirklich besonders. Vielen Dank an Gabrielei für die Zeit, ihr Wissen, die Geschichten und Einblicke, die sie mit uns geteilt hat und den schönen Tag, der es trotz der traurigen Geschichten war.

Holger Reuning